Da sind wir am Punkt, den ich unter "Fremdbestimmung durch den Ermessensspielraum eines Sachbearbeiters bei der ARGE' einordne. Das System bietet Hilfeleistungen, das ist korrekt. Aber man muss sich selbsttätig in der Regel gut informieren, um all diese Hilfsleistungen zu kennen, und dann noch auf einen rationalen Argumenten zugänglichen Sachbearbeiter treffen, der einem diese gewährt, wenn der Anspruch berechtigt ist.
Inwiefern ist dies ein Problem oder hat aktiv mit Armut zu tun? Sofern es tatsächlich gute Gründe gibt, wird jeder Sachbearbeiter, notfalls sein Vorgesetzter, dem Antrag zustimmen. Das den Leuten nicht der Hintern hinterher getragen wird, sondern sie sich selbst darum kümmern müssen, ist vollkommen legitim und auch zu erwarten, wenn man bedenkt, dass sie nicht arbeiten und Hilfe erhalten. Es wird nicht aktiv verheimlicht oder verschwiegen, es wird nur nicht überall zur Schau gestellt. Sollte man eine Leistung aber nicht gewährt bekommen, dann sollte man sich tatsächlich fragen, ob man das, was man beantragt hat, wirklich benötigt.
Ein Beispiel hierfür ist ein Fernseher. Diese werden (teilweise) sogar vom Amt übernommen, da es heutzutage zur Grundausstattung gehört. Wenn man allerdings der Meinung ist, dass man einen riesen Flachbildschirm erhält, hat man sich selbst an den Kopf zu fassen. Das Beispiel mit dem Flachbildschirm ist übrigens wesentlich prägnanter als du glauben würdest und es wird, laut meinen Informationen meines ehemaligen Sachbearbeiters und meiner erwähnten Kollegen, relativ häufig ein Antrag darauf gestellt. Begründet wird es allerdings unterschiedlich. Einmal wurde es sogar bewilligt, weil die Person so schlechte Augen hatte, dass sie nachweisen konnte, dass sie andernfalls nichts davon sieht.
Zitat von nerd-gedanken
Ich habe während meiner Hartz IV-Zeit relativ viel recherchiert & nachgefragt und daher die Leistungen erhalten, die ich benötigt habe, aber selbst bei meinem recht höflichen Sachbearbeiter oft erstmal vor einer zähen und langwierigen Argumentationshürde gestanden. Ich musste diesem Menschen jeden Cent extra verbal abringen und bin froh drum, Diskussionskultur während meiner universitären Ausbildung erlernt zu haben. Damals habe ich mich immer wieder gefragt, wie es wohl anderen Leuten mit demselben Sachbearbeiter ergangen ist, die weniger nachdrücklich vorgegangen sind, weniger nachgelesen hatten, weniger argumentativ agieren konnten. Von Sachbearbeitern, die sich überhaupt nicht vom Staatsgeld trennen wollen, weil sie der Ansicht scheinen, das Gegenüber verdiene das Geld generell nicht, einmal ganz zu schweigen - ein guter Freund von mir war gleichzeitig in H4 und hatte einen Sachbearbeiter, der grundsätzlich alles erstmal mit 'Nein' beantwortet hat, egal welche Anfrage. Erst nach einem Sachbearbeiterwechsel, den er nach zähem Ringen hinbekommen hat, bekam er die ihm zustehenden Leistungen im angemessenen Umfang - und so weiter.
Von was für Leistungen und Anfragen sprechen wir nun genau? Der Regelsatz sollte, wie ich bereits erklärte, ausreichen. Alles weitere wird nicht benötigt und ist eigentlich nur Luxus.
Zitat von nerd-gedanken
Das Problem des H4-Systems liegt für mich darin, dass es verallgemeinert. Bildung für 1,06€ im Monat? Was genau soll das sein, eine halbe Zeitung? Nachrichtenübermittlung - ist vermutlich Handy und/oder Internet und kommt relativ gut an einen entsprechenden Normaltarif heran. Aber schon bei einer Durchschnittswohnung von 45qm² pro Person (das war damals die Vorgabe in meinem ARGE-Gebiet, kann natürlich variieren) sind 36€ für Energiekosten UND Instandhaltung angesichts heutiger Stromversorgerpreise relativ utopisch. Je nachdem, wo man lebt, sind 35€ für Verkehr entweder machbar oder absolut zu wenig - in der Großstadt ist eine Monatskarte vielleicht zu einem solchen Preis erschwinglich, auf dem Land wird es damit eng (größeres Einzugsgebiet, weniger Benutzer).
Bildung ist ein Punkt, welcher auch extrem stark kritisiert wird. Hier kann ich vollkommen zustimmen, deshalb spricht man landläufig auch in diesem Bereich von "Bildungsarmut". Hier müsste es aufgestockt werden, ich persönlich würde 10 Euro veranschlagen, was ungefähr 1-2 Büchern entsprechen würde. Allerdings hätte das zur Folge, dass zum einen die Grenze für Hartz 4 geändert werden müsste, wodurch es mehr Hartz 4-Empfänger gäbe und es würde den Staat, nach dem was ich gelesen habe, ungefähr 1,5 Milliarden Euro jährlich kosten. Wenn man nun bedenkt, dass es geförderte Kurse zur Arbeitsmarktentwicklung gibt, wie zum Beispiel eine Abendschule für EDV oder auch Umschulungen, halte ich es für gerade so akzeptabel, dass es hiermit veranschlagt wird.
Bezüglich der Energiekosten würde ich sie eigentlich nur als minimal zu niedrig veranschlagt betrachten. Instandhaltung sollte genauer definiert werden, aber für alles was wirklich relevant ist, müsste der Vermieter so oder so aufkommen. Wenn man allerdings sparsam mit dem Strom umgeht und sich einen vernünftigen Anbieter aussucht, sollte das auch hinkommen. Man sollte auch nicht vergessen, dass so etwas wie ein Wasserkocher nicht zum Thema Instandhaltung fällt, sondern dafür ein Extra Kostenpunkt gegeben ist.
Weshalb gehst du aber direkt von einer Monatskarte aus? Das meiste sollte Fußläufig zu erreichen sein, dementsprechend brauchst du lediglich eine Tageskarte jeweils, wenn du zum Beispiel einkaufen gehst. Kaufst du nur einmal die Woche ein, gibst du auch hierfür weniger Geld aus. Es ist also auch hier realistisch. Eine Monatskarte wäre in dem Fall Luxus. Hat es etwas mit Armut zu tun, wenn man nicht laufen möchte? Ich finde nicht.
Man sollte außerdem einmal festhalten, dass der Regelsatz daran berechnet wird, was ein durchschnittlicher Single-Haushalt aus den 15% der untersten Einkommen zur Verfügung hat, der keine Sozialhilfe erhält. Natürlich mit marginalen Abstrichen. Wenn also solche Leute es schaffen, obwohl sie extra kosten durch Arbeit und so weiter haben, warum sollte es dann eine Person die de facto nichts tut mehr bekommen?
Zitat von nerd-gedanken
Was in den ganzen Regelsätzen aber selten bis gar nicht berücksichtigt wird, ist die Tatsache, dass Kinder beim Aufwachsen einem sehr hohen Sozialdruck unterliegen. Gerade Kinder aus armen Familien - und so wie Du Deinen bisherigen Lebenswerdegang schilderst, dürftest Du das sicherlich kennen oder zumindest nachempfinden können - werden leicht ausgegrenzt, wenn sie mit Klassenkameraden nicht mithalten können. Ja, für das Notwendigste wird gesorgt, aber nicht für mehr - und das 'mehr' macht oft den Unterschied zwischen ruhigem Aufwachsen und Mobbing aus.
Das stimmt absolut. Deshalb sollte man den Sinn von ALG2 nicht vergessen. Es ist die Grundversorgung, es ist kein Luxus. Aber ein Leben ohne exzessiven Luxus ist nicht gleichzusetzen mit Armut.
Es gibt Forderungen, dass man in den Regelsatz einen Betrag von 20 Euro einrechnen sollte, der für Dinge wie Geschenke für die Enkel gedacht sein soll. Dies würde aber das selbe Resultat haben, wie meine Ausführungen zur Bildung.
Außerdem gibt es sogar die Möglichkeit, dass die Eltern zumindest einen Mini-Job annehmen und somit extra Geld verdienen. Hier ist allerdings oftmals der Stolz zu groß und man "sieht es nicht ein" für vielleicht 150 Euro monatlich extra 12 Stunden die Woche zu arbeiten. Das man keinen Job findet, ist unwahrscheinlich. Es ist hierbei eher das Problem, dass die Person dann nicht z. B. Putzen gehen möchte. Da dies die Realität ziemlich gut widerspiegelt, behaupte ich, dass man hier nicht von Armut sprechen kann.
Kinder könnten theoretisch auch anfangen ihr eigens Geld zu verdienen. Zeitungen austragen ist zum Beispiel eine Möglichkeit. Man sollte hier also eher den Fokus auf die Möglichkeiten der Entwicklung legen, als Fehlverhalten der Eltern zu begünstigen. Allerdings muss ich fairerweise zu geben, dass es bei mir nichts genutzt hätte, da meine Eltern mir routiniert mein erspartes gestohlen haben. Allerdings ist so etwas nicht die Schuld des Systems.
Zitat von nerd-gedanken
Ich beschwere mich nicht darüber, dass man sich beim Leben vim H4-Satz einschränken muss. Ein Hartzer muss meiner Ansicht nach weder trinken noch rauchen noch jedes Wochenende ausgehen. Aber dieses System ist durch seinen hohen verallgemeinernden Charakter, der Wohnort, Situation und Möglichkeiten außer acht lässt, eine ziemliche Luftnummer und berechnet auch das Verhalten der Sachbearbeiter nicht mit ein. Alle Leute, die ich im H4-System steckend jemals kennen gelernt habe, wünschten sich nichts sehnlichster, als da ganz schnell wieder rauszukommen, einen Job zu finden, sich vom Amt unabhängig zu machen. Wieder selbst entscheiden zu können, wo man lebt, was man tut, wo man wann ist. Von mir selbst ausgehend: ich habe es gehasst, diese Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen und war so schnell wie möglich wieder aus dem System draußen.
Weder Wohnort, noch Situation oder Möglichkeiten werden außer Acht gelassen. Jede Gemeinde hat ihre eigenen Regelungen bezüglich angemessenem Wohnraum, was sich an der Marktlage orientiert. Deshalb wird der Wohnort bewusst berücksichtigt. Die Situation der Individuen wird ebenfalls in Betracht gezogen und man versucht (sollte versuchen) geeignete Maßnahmen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu finden.
Das Amt hat hierfür hunderte Möglichkeiten. Bezahlte Praktika. Unterstützung beim Gehalt in den ersten Monaten nach einer Anstellung unter bestimmten Voraussetzungen. Vermittlung von Fähigkeiten. Bewerbungshilfen. Weiterbildung. Unterstützung bei Kinderbetreuung. Integrationsangebote.
Der einzige Punkt, in welchem nicht die persönlichen Umstände betrachtet werden, sind Abhängigkeiten, wie zum Beispiel das Rauchen. Und das sind auch Punkte, welche man nicht unterstützen sollte. Ich meine, jetzt einmal im Ernst, wenn du einen Job angeboten bekommen würdest, aber dich um deine Mutter kümmern musst und dir der Job das verwehren würde, könntest du den Job ablehnen ohne das es Konsequenzen für dein ALG2 hätte. So etwas ist enorme Toleranz in unserem Sozial-Hilfe-System.
Dafür muss man aber Freiheiten opfern. Man muss sich anpassen an die Gegebenheiten, das hast du alles richtig erkannt. Deshalb sind aber auch so viele Personen nicht gut auf ALG2 zu sprechen. Weil sie durch den Bezug von ALG2 nicht mehr unabhängig sind. Ihnen mehr zu gewähren wäre de facto asozial, weil es die Mehrheit der Gesellschaft negativ beeinflussen würde, nur um einem bestimmten Personenstand etwas mehr Luxus zu verschaffen.
Zitat von nerd-gedanken
Beispiel 1: ich habe mich korrekt zum Urlaub auf dem Amt abgemeldet - habe mir das Ganze glücklicherweise quittieren und stempeln lassen. Als ich mich die Woche darauf weisungsgemäß zurückgemeldet habe, wusste man im Amt von nichts, weil es nicht in meine Akte eingetragen war und wollte gleich für unerlaubtes Fernbleiben Sanktionen verhängen. Glücklicherweise hatte ich meinen Zettel mit Stempel und Unterschrift noch.
Beispiel 2: 200€-Heizungsnachzahlung nach einem sehr überraschend sehr harten Winter, bei dem deutlich mehr geheizt werden musste als üblich, die mir zu Monatsbeginn wegen Lastschriftverfahren mein Konto zzgl. zu laufenden Kosten leergeräumt hat. Als ich auf dem Amt selbiges angezeigt habe und ihnen den entsprechenden Brief zeigte, hieß es 'Buchen Sie doch das Geld einfach zurück!", eine Übernahme dauere angeblich mindestens zwei Wochen in der Ausführung. Als ich nach dem Chef verlangt habe und dort die Sache eskalieren wollte, ging es dann plötzlich doch - nur zwei der interessanten Begebenheiten mit ARGE-Sachbearbeitern)
Beispiel 1:
Vollkommen irrelevant. Das hat nichts mit dem System oder Armut zu tun, das ist ein Problem der Bürokratie. Jeder Mensch in Deutschland weiß, dass wir zu bürokratisch sind.
Beispiel 2:
Für so einen Fall gibt es die Möglichkeit, dass man einen Vorschuss erhält. Das ist wieder eine Sache der Konversation. Es Pauschal zu gewähren wäre naiv, auch mit einem Schreiben, weil in dem Fall plötzlich auch falsche Auszahlungen stattfinden würden und man das Geld nie wieder sehen würde.
Insgesamt sehe ich von dir berechtigte Kritik beim Thema Bürokratie. Das hat aber, wie erwähnt, nichts mit dem ALG2-System zu tun und auch nicht mit Armut.
Freundliche Grüße
Shandal